Rockkragen und Hosenschlitz: Verdächtigungsstrategien und Gefährlichkeitspräsumtionen in der Kriminalwissenschaft um 1900

Mit der modernen Staatlichkeit entwickelten sich auch die moderne Strafjustiz und die Kriminalwissenschaft. So sehr sich diese Institutionen um Objektivität und emotionale Distanz bemühen mochten, das staatliche System des Strafens kam und kommt nicht ohne Verdächtigungen aus, und Verdächtigungen si...

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Main Author: Bachhiesl, Christian Wilhelm (Author)
Format: Electronic Article
Language:German
Published: 2021
In: SIAK-Journal
Year: 2021, Volume: 18, Issue: 3, Pages: 80-89
Online Access: Volltext (kostenfrei)
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Summary:Mit der modernen Staatlichkeit entwickelten sich auch die moderne Strafjustiz und die Kriminalwissenschaft. So sehr sich diese Institutionen um Objektivität und emotionale Distanz bemühen mochten, das staatliche System des Strafens kam und kommt nicht ohne Verdächtigungen aus, und Verdächtigungen sind stets verbunden mit Gefährlichkeitspräsumtionen. In diesem Beitrag wird anhand von Beispielen aus der frühen Kriminalwissenschaft, vor allem anhand von Aussagen des Grazer Kriminologen Hans Gross und seiner Mitarbeiter, aufgezeigt, wie um 1900 das System der staatlich legitimierten Verdächtigungsstrategien zu perfektionieren versucht wurde und mit der Stigmatisierung devianter und benachteiligter Gruppen verbunden war, nicht zuletzt solcher, die ohnehin schon eingeschränkte Verwirklichungsmöglichkeiten vorfanden, wie etwa Frauen oder die so genannten "Zigeuner". Dabei entstand das Paradoxon, dass der Staat im Grunde jeden Bürger unter Generalverdacht stellte, von diesen Verdächtigten aber erwartete, dass sie ihm uneingeschränktes Vertrauen entgegenbrachten und seine zunehmenden Regelungsansprüche in immer mehr Lebensbereichen guthießen. Wie aber kann eine Institution, deren Effizienz auf Verdächtigungen beruht, Vertrauen erwecken? Und welche Problemfelder tun sich beim Bedenken dieser Fragen für die Kriminalwissenschaft auf? Die historische Analyse lässt erkennen, wie bedeutsam diese Fragen auch für die heutige Situation sind, auch wenn die Geschichte die Probleme von heute nicht lösen kann. Dafür müssen wir schon selber sorgen.
ISSN:1813-3495
DOI:10.7396/2021_3_G